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Filterwahn

Ein gestellter Hintergrund, ein gekünsteltes Lächeln, ein ‘Knips‘.

 

Der Anfang eines lang oder länger andauernden Prozesses, der sich zwischen 11 und 100 weiteren Malen wiederholt. Was dann folgt ist die Qual der Wahl:

Einen Favorit aussuchen.

 

Wenn man keinen findet, dann steigt man schon bei diesem Schritt wütend aus. Wenn man diesen Schritt hinter sich nimmt, dann wird das Bild geschlossen und eine beliebige Anzahl von Apps geöffnet; die Namen kennt man: Facetune, YouCam Perfect, Photoshop Express und weitere. Das Bild wird dort eingefügt.

 

Weichzeichner, Facelifting, der magische Pinsel, tausende Filter, größere Augen, vollere Lippen, weniger Kurven, ein bisschen mehr Make-Up und dann? Ein komplett neues Bild. Das Gesicht auf dem Bild gleicht dem Original in keinster Weise. Das Original wird meistens von einem natürlich schönen Menschen geziert, von natürlichen Dingen und kleinen Makeln. Nach dem Bearbeitungswahn ist dieser „unperfekte“ Mensch verschwunden. Gänzlich. Er ist schlicht und weg überarbeitet, editiert, verändert, künstlich. Der darauf abgebildete Mensch findet sich in diesem Moment perfekt.

Aber ist er das dann?

 

Unsere Gesellschaft wird geprägt von verschiedensten Schönheitsidealen. Ironischerweise widersprechen sich die meisten. Man könnte also sagen, dass es mindestens zwei Sparten dieser gemachten „Perfektion“ gibt, man muss sich nur entscheiden. Für oder gegen Kurven, für oder gegen volle Lippen, für oder gegen große Augen, für oder gegen viel Sport (aber wenn, dann bitte nur Fitness), für oder gegen kurze Haare, für oder gegen viel Make-Up, für oder gegen den neuesten Style. Für oder gegen. Mittelwege sind ungern gesehen. Eine Abwechslung der Dinge wäre kritisch, würden viel zu sehr gegen die gesellschaftliche Perfektion stehen. Die gesellschaftliche Perfektion also, aber ist es dann auch wirklich perfekt?

 

Ist man erst dann perfekt, wenn man diese gesellschaftlichen Dinge beachtet?

 

Vor allem jüngere Frauen glauben, dass sie erst dann „gut genug“ sind, wenn sie sich verstellen, ihre Bilder bearbeiten und ihre Gesichter und Körper makellos machen, sich selbst bearbeiten und ihre Haut babyweich machen. Sie sind dann zufrieden, wenn sie ihre Körper dank einigen Klicks verzerren und verändern können. Sie sind erst dann zufrieden mit sich, wenn ihre Gesichter frei von jeglichen Porenstörungen sind. Erst dann empfinden sie sich selbst als „gut genug“. Wofür? Für soziale Netze, für Likes, für Follower, für Kommentare und Reaktionen. Sie denken, sie seien erst dann gut genug, wenn sie genau diese Dinge machen. Dass so etwas nicht richtig sein kann, sollte jedem von uns klar sein. Dass so etwas keineswegs gesund ist, wissen wir alle. Und auch diejenigen, die solche Schönheitsideale in die Welt rufen, wissen dies. Und es passiert trotzdem. Es passiert immer wieder, immer öfter. Vor einiger Zeit schaute ich eine Dokumentation über das Verhalten der Jugend und jungen Erwachsenen im Internet. Was ich dort sah, verstörte mich sehr. Vor der Kamera stand ein junges Mädchen, schätzungsweise 14 Jahre alt. Sie wurde gefragt, ob sie etwas an sich ändern würde, wenn sie könnte (bezogen auf die Bearbeitung ihrer Selfies).

Sie sagte etwa: „Ich würde alles dafür machen, um auch in echt so auszusehen wie auf meinen Selfies.“

 

Das war der Moment, in dem ich die Dokumentation ausschaltete. Ich war sprachlos, geschockt, bedrückt. Was muss in einer Gesellschaft falsch laufen, dass eine Jugendliche sagt, sie würde alles dafür tun, um so auszusehen, wie auf ihren bearbeiteten Bildern? Was muss in einem Umfeld falsch laufen, dass solche Dinge gefördert und nicht ausgemerzt werden? 

Die verharmlosenden Stimmen…

 

… habe auch ich schon höchstpersönlich treffen und mit ihnen diskutieren dürfen. Es war mir im Endeffekt keine Ehre; das habe ich sie wissen lassen. Ich erfuhr eine Vielzahl von Aussagen, die dafürsprachen, dass das alles „gar nicht so schlimm sei“.

 

„Das gab es schon immer“ ist eine Aussage, die schlichtweg falsch ist. Es ist zwar kein modernes Phänomen, dass man Bilder und Videos mit Hilfe von Programmen bearbeiten kann, es ist aber ein modernes Phänomen, dass Smartphones sehr starke Apps zur Bildbearbeitung und Bildkaschierung anbieten und diese Nutzungszahlen in den vergangenen Jahren rapide anstiegen. Im Oktober 2008 wurden die ersten Smartphones mit funktionierenden Appstores eingeführt. Die ersten Bildbearbeitungsapps waren eher auf dem Level „Paint“. Die Steigerung mit verschiedensten Apps wie Facetune und Co. entstand erst in den letzten Jahren. Demnach gab es so ein Extremum nicht schon immer. Dieses entstand in den letzten Jahren und stieg rapide an. Vergleichen kann man das mit keiner jugendlichen Mainstream-Erscheinung.

 

„Die Jugend will sich ausprobieren“ höre ich diesbezüglich in fast jeder Diskussion. Ein Stück weit mag diese Aussage auch stimmen. Aber die Grenze zum „Ausprobieren“ ist an einem ganz bestimmten Punkt überschritten. Wenn Jugendliche lustige Hunde-, Katzen-, Pandafilter benutzen und daran offensichtlich Freude haben oder ihre Gesichter zu Grimassen verzerren, dann hat dies noch einen gewissen Mehrwert. Dieses „Ausprobieren“ wird jedoch an sehr vielen Stellen mittlerweile zu einem Zwang, einer dramatischen Routine. Jedes Bild muss bearbeitet werden, jedes falsche Lachen verbessert, jede zu große Kurve kaschiert werden. Das ist kein „Ausprobieren“ mehr. Das überschreitet die Grenze.

 

„Das ist doch ganz normal“ ist die Aussage schlechthin. Diese Aussage versucht jedes noch so schlimme Problem zu relativieren, jede Tat, jede Aktion, jede Reaktion zu legitimieren. Normal ist, was die Gesellschaft als Eigenschaft oder Handlung relativ neutral ansieht. Unnormal ist, was dagegenspricht. Fraglich bleibt nur, in welchem Rahmen wir uns bewegen, wenn eine Gesellschaft dies festlegen darf und in welchem Umfang wir entscheiden können, was etwas „normal“ ist. Schon oft hat man auch bei kritischen Themen, beispielsweise Mobbing und Schlägereien gehört, dass die Taten legitimiert oder als verständlich angesehen werden. Schon oft hat man gehört, dass 906090 nicht überschritten werden sollte, weil das „nicht schön aussieht“; das dürfte so nicht sein. Ich würde gerne wissen, was mit einer Gesellschaft passiert, die kritische Handlungen weitestgehend relativiert und tragischen Handlungen gleichsetzt. Wohin führt so etwas? Dazu, dass erst Körperverletzung, dann Misshandlung, dann vielleicht auch Mord als „verständlich“ oder „normal“ legitimiert wird? Wenn wir so anfangen, dass Menschen diskriminiert werden dürfen, weil sie nicht aussehen wie die Masse und es „normal“ ist, dass sie ihre Bilder in die Unkenntlichkeit bearbeiten und gemobbt werden, wenn sie es nicht tun, dann kommen wir solchen Dingen nahe. Und dann sind die Konsequenzen auch nicht mehr weit.

 

Die Konsequenzen sind vielfältig

 

Nicht nur das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen der Menschen, die diesen Bearbeitungsstandard durchführen sinkt drastisch. Auch die Menschen, die sich an diese „Normenkette“ nicht halten, leiden darunter.

 

Wenn Menschen durch Bearbeitung ihrer eigenen Identität entfliehen können, ihren optischen Merkmalen, dann verlieren sie die Liebe zu sich selbst, zu ihrer Optik, zu den Dingen, die sie identifizierbar machen. Dieses Resultat ist ein grandioser Nährboden für Selbstzweifel. Diese sorgen schlussendlich für Komplexe und können im schlimmsten Fall zu gravierenden Problemen im Selbstbezug führen.

 

Für die Menschen, die sich nicht in eine App pressen und bearbeiten bedeutet das gleichzeitig aber auch Ausschluss, gegebenenfalls Hasskommentare und andauernde Negativität. Dass daraus aber auch Mobbing und seine Konsequenzen wachsen kann, möchte ich an dieser Stelle erwähnen.