Der Pflichtbesuch zur Weihnachtszeit

Ich habe lange überlegt, ob und in welcher Kategorie ich diesen Beitrag veröffentlichen möchte. Ich muss gestehen und vor allem von vornherein mitteilen, dass dieser Beitrag nicht nur Schattenseiten widerspiegeln soll. Einfach, weil ich es nicht übers Herz bringen kann, mit ausschließlich einem Auge darauf zu schauen…

 

Weihnachten, Familie, Familienbesuche. Das, was jeder so treibt, was manche mögen, was manche verabscheuen, jedes Jahr aufs Neue, immer ein wenig chaotischer und man steckt mittendrin. Das gibt’s heute auch bei mir… Leider.

 

Es ist jetzt grade 11:47 Uhr des zweiten Weihnachtstages und ich sitze mit meinen wundervollen Eltern im Auto, auf dem Weg zur Oma. Zur einzigen Oma, die ich persönlich kenne. Das zweite Paar Großeltern lebt, aber an unserem Leben gewollt vorbei. Das ist aber eine andere Geschichte.

 

Ich möchte diesen Besuch eigentlich nicht als „Pflichtbesuch“ abtun, da dies mit so vielen negativen Eigenschaften der Großeltern behaftet ist, die vielleicht unberechtigt sind. Jedoch muss ich für mich diesen Begriff wählen, da ich gestehen muss, dass ich nicht gerne diesen Weg auf mich nehme, die Zeit in diesen Besuch stecke. Einfach, da mich diese Besuche jedes Mal verletzen und traurig machen.

 

Der Besuch bei meiner Oma beginnt meist mit einer herzlichen Begrüßung, dann beruhigen sich die Gemüter und es wird zu 99% der Weg in ein Restaurant angestrebt. Bis hierhin verläuft meistens alles ruhig, bis dann das Essen den Weg zum Tisch findet. Dann beginnt der (für mich schlimmste) Teil des Tages, der eigentlich immer für Magenschmerzen sorgt.

 

Es ist nämlich grundsätzlich und seit 22 Jahren der Fall, dass ich höre, wie großartig jedes andere Enkelkind handelt oder wie bewundernswert es ist, was diese jungen Menschen machen. Dabei ist es egal, ob ein Enkelkind keinen Schulabschluss besitzt und sich durch das Leben mogelt. Auch das ist wahnsinnig bewundernswert. Und dann komme ich. Das Enkelkind, was durch eine Depression von einem Gymnasium auf eine Regelschule kam, dort einen schlechten Abschluss erlangte und ein Jahr pausieren musste. Das Enkelkind, dass danach ein gutes Abitur absolvierte und jetzt 600 Kilometer weit von der Heimat entfernt Jura studiert. Das Enkelkind, welches immer zu Besuch kommt, obwohl es nur wenige Tage in der Heimat hat und sich absolut nicht wohlfühlt bei solchen Besuchen. Das Enkelkind, welches kurz nach einer schlecht gelaufenen Klausur zu ihrem Geburtstag anruft. Das Enkelkind, wessen Geburtstag zwei Jahre in Folge von der Oma vergessen wurden. Das Enkelkind, welches nie gelobt wird. Das Enkelkind, das einen „leichten und einfachen Studiengang“ belegt hat und eigentlich „keinen Stress“ hat. Das Enkelkind, das nie gefragt wird, wie es ihm geht oder wie das Leben läuft. Das Enkelkind, welches immer spüren musste, wie es ist, ein Mensch letzter Klasse zu sein; vor allem an solchen Tagen. Das Enkelkind, das ohne Grund immer das schwarze Schaf bleiben wird.

 

Und dennoch sitze ich mal wieder im Auto und fahre mit. Und jetzt kommt die Frage: Warum? Wahrscheinlich, weil ich es mir nicht verzeihen könnte, nicht mitzufahren, wenn ich weiß, dass es irgendwann zu spät sein könnte, mitzufahren. Vielleicht, weil ich die Hoffnung habe, dass sich doch noch etwas ändert. Wahrscheinlich, weil ich meine Weste rein halten möchte. Vielleicht, weil ich nicht stark genug bin, um zu sagen, dass ich nicht mitfahre und meinen Frieden daheim bewahren kann. Wahrscheinlich, weil ich dennoch zeigen möchte, welche Entwicklung ich in den letzten acht Jahren gemacht habe. Und vielleicht, weil ich mir wünsche, ein einziges Mal die gleiche Wertschätzung zu erhalten.

 

In all den Jahren, in denen ich mein Umfeld genau beobachten konnte, habe ich immer wieder gesehen, wie angeekelt Kinder und Jugendliche waren, wenn sie von ihren Großeltern gut und gerecht behandelt wurden. Wie genervt sie an Tagen waren, an denen sie ihren Großeltern besuchen mussten. Dass sie nur deshalb mitkommen, um Geschenke zu bekommen, dass sie diese Menschen nicht wertschätzen und es als wahnsinnig normal ansehen, dass sie Großeltern besitzen und immer wieder so gut und intensiv unterstützt werden. Dabei ist das nicht normal. Es ist nicht der Regelfall. Ich für meinen Teil habe mir solche Großeltern immer gewünscht. Im Kindergarten, als die Kinder davon erzählten und schon zu der Zeit anfingen, darüber zu meckern, dass sie „mal wieder zu Oma und Opa müssen“, in der Vorschulzeit, als sie „schon wieder zu den Großeltern müssen“, in der Regelschulzeit, als sie „gar keinen Bock auf die Alten“ hatten und „nur wegen Geld“ mitkommen. Und ich habe mir noch immer das Eine gewünscht. Großeltern. Genau diese Art von Großeltern, die einfach da sind, das Enkelkind besuchen und Zeit mitnehmen, Zeit mit ihrem Enkel verbringen.

 

Und jetzt sitze ich hier, es ist 12:25 Uhr und wir sind fast da. Und ich weiß, dass es nicht anders ablaufen wird. Dass es heute genauso ablaufen wird, wie es immer läuft. Enkelkind X macht jetzt ein freiwilliges soziales Jahr und engagiert sich prächtig. Enkelkind Y hat jetzt mal wieder die Arbeit gewechselt, aber man muss ja auch erstmal schauen, was man machen will. Enkelkind Z, wie schön, dass du nach geraumer Zeit mal wieder da bist; wie könnte ich dir böse sein; wenn du mich an meinem Geburtstag oder Weihnachten vergisst; wie könnte ich dir böse sein.

Und dann bin da ich, Enkelkind buchstabenlos. Ich mache grundsätzlich nichts, zumindest nichts Gutes. Es gibt keine Frage, es gibt keine Aussage, lediglich eine Umarmung und gut-gekauftes Essen.

 

Und jetzt werden auch hier viele fragen: „Warum tust du dir das an, wenn du weißt, dass es nicht anders läuft?“ Vielleicht, weil ich es nicht übers Herz bringe, einen Menschen an solchen Tagen allein zu lassen. Keine Ahnung, ob das Stärke oder Schwäche widerspiegelt, über seine eigenen Gefühle zu wandern, um anderen Menschen eine Freude zu machen, denn an solchen Tagen bin ich noch immer warmherzig und pflichtbewusst. Sicherlich, weil ich einem solchen Menschen dennoch ein gutes Leben ohne Streit ermöglichen will. Und wahrscheinlich, weil ich zu oft gesehen habe, wie unfair auch Enkelkinder handeln können. Sehr wahrscheinlich, weil ich weiß, wie bösartig Familienangehörige sein können und ich nicht so sein möchte. Also warum tun wir uns diese Besuche überhaupt an? Aus genau diesen, genannten Gründen… Ich kann niemanden an solchen Tagen sitzen lassen, wenn ich nicht weiß, wie viel Zeit einem Menschen bleibt. Das kann ich einfach nicht...

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Jetzt ist es genau 20:21 Uhr und ich sitze im Hause meiner Eltern an meinem Schreibtisch. Ich bin müde und ich bin erschöpft, weil alles genauso ablief, wie ich es bereits vorhergesehen habe. Keine Frage; wie es läuft oder was so abgeht, keine Wertschätzung, kein Lob. Provokation, Sticheleien und Lob der Anderen gab es dafür in Haufen. Und wieder sitze ich hier und frage mich, warum ich mir das antue. Und wieder komme ich auf die gleichen Gedanken. Das bin wahrscheinlich ich, das gehört wohl einfach zu mir. Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich jetzt grade eine gewisse Distanz aufgebaut habe. Distanz zu den letzten beiden Weihnachtstagen, die mit meinem Bruder und meinen Eltern wirklich schön waren und ich solche Momente nicht als „normal“ abstempeln kann. Weihnachten deshalb als schlecht zu betiteln, missfällt mir. Und dennoch muss ich gestehen, dass meine Gedanken sicherlich noch ein wenig darum kreisen werden. Um die Frage, warum es immer wieder so passiert und warum ich es mir immer wieder antue. Wahrscheinlich wird auch das nächste Jahr ähnlich ablaufen. Ich möchte mich einfach nicht zu einer Generation oder zu einem Typus Mensch zählen, der durch Erfahrung rachsüchtig, stur und bösartig wird. Denn von solchen Menschen gibt es viel zu viele… Durch solche Menschen entstehen solche Dinge.

 

… Aber im Endeffekt gibt es von diesen Fällen viele. Sei es, dass man das schwarze Schaf ist oder nicht ernst genommen wird. Dass man nicht respektiert oder toleriert wird. Und dann gibt’s noch diejenige, die keinen Kontakt wünschen oder können.

Ihr lieben „Leid-Träger“, ich bewundere euch. Dass ihr jedes Weihnachtsfest dennoch meistert oder die Dinge so durchzieht, wie ich vielleicht. Auch, wenn ihr euch an diesen Tagen allein fühlt, weil ihr allein seid oder euch einsam unter vielen fühlt. Auch, wenn ihr Pflichtbesuche ertragen müsst und nicht ausbrechen könnt/wollt. Auch, wenn ihr von diesen Feiertagen genervt, enttäuscht oder traurig seid. Dann vergisst nicht, dass ihr genug seid. Ihr seid verdammt genug. Und das müsst ihr niemandem beweisen!

 

In diesem Sinne genieße ich jetzt noch die letzten dreieinhalb Stunden Weihnachten mit meiner kleinen Familie und trinke einen Absackersekt auf den heutigen Chaostag. Macht auch ihr das Beste aus dem Rest.

 

Ich drück‘ euch,

 

 

eure Phéa